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Mut zur Lücke: Titanic

Ein Beitrag von Sebastian Moitzheim

Der Kanon ist ein lähmender Imperativ. Eigentlich sollte man alles gesehen haben, die gesamte Filmgeschichte. Hat man aber nicht. In dieser Reihe schreiben unsere Autor*innen über eben jene Lücken, über die man sonst gerne schweigt. Diesmal: Titanic. Wie, den hat Sebastian Moitzheim noch nicht gesehen?

Meinungen
Leonardo DiCaprio und Kate Winslet in Titanic
Leonardo DiCaprio und Kate Winslet in Titanic

Vor dem Film

Als James Camerons Titanic am 8. Januar 1998 in die deutschen Kinos kam, war ich 7 Jahre alt. Ich war nicht bereit. Mein erster Kinofilm lag noch vor mir: Es sollte, ein paar Monate später, Flubber sein, was als Antwort auf die Frage, womit meine persönliche Kinogeschichte begann, nicht gerade für cineastische Credibility sorgt, aber immerhin neben meiner lebenslangen Liebe für das Kino selbst auch die für Robin Williams begründete.

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Titanic jedenfalls kam ins Kino und verließ es wieder, ohne dass je zur Debatte stand, dass ich den Film auf der großen Leinwand sehen würde. Wahrgenommen habe ich den Film dennoch: Er war regelmäßig Thema im Fernsehen und den Gesprächen der Erwachsenen in meinem Leben. Es schien, als müsste jede*r eine Meinung zum Film haben — egal, ob man ihn gesehen hatte oder nicht. Ich bin auf dem Dorf großgeworden, wo Popkultur selten Gesprächsthema war und man sich für gewöhnlich in der Schlange an der Kinokasse zum ersten Mal damit beschäftigte, was gerade lief. Schon damals hatte ich also den Eindruck, dass Titanic ein besonderer Film war, ein Ereignis.

So kamen nicht nur einige Eckdaten über den Film bei mir an — der damals teuerste aller Zeiten und bald auch der erfolgreichste, so viele Oscars wie kaum ein anderer Film —, sondern auch das Narrativ, dass es sich bei Titanic um einen sogenannten „Frauenfilm“ handele. Dieses Narrativ blieb noch lange im Kopf und verhinderte dann auch für die nächsten Jahre, dass ich Interesse daran entwickle, den Film in einer Fernsehausstrahlung zu sehen. Ich heftete Titanic unter „nicht für mich gemacht“ ab und ließ diese Einordnung einige Jahre lang unhinterfragt.

Als Teenager überwand ich derlei Schubladendenken — und lernte eine andere Art: Ich war jetzt ein echter Cineast, oder was ich dafür hielt, sprich: ein Snob. James Cameron hatte zwar, dank seiner Actionklassiker, eine gewisse Credibility, aber Titanic war sein „Ausverkauf“-Film, ein kalkulierter, seelenloser Blockbuster, und so blieb diese Lücke selbst in dieser Zeit, in der ich so viele Klassiker wie möglich zu schauen versuchte, ungeschlossen.

Natürlich überwand ich auch dieses Denken irgendwann, und seitdem ist mehr als genug Zeit vergangen, Titanic endlich nachzuholen. Warum also habe ich das bis heute nicht getan? Irgendwie kam es mir so vor, als sei der Moment verstrichen. Titanic, das Ereignis, war vorbei, es blieb Titanic, der Film — und was sollte ich daraus noch ziehen? Die Sache mit Filmen, die so präsent im allgemeinen Diskurs und der Popkultur sind, ist ja: Selbst, wenn man sie nicht gesehen hat, hat man sie doch irgendwie gesehen. Durch Parodien, Zitate, Memes, Clips in unterschiedlichsten Kontexten, generelle popkulturelle Osmose kannte ich natürlich die ikonischen Szenen des Films, ich hatte jede erdenkliche Meinung, jeden Gedanken zum Film viele Male gehört, ich hatte diverse Filme gesehen, die die Formel des Films imitieren — was sollte es da für mich noch zu entdecken geben?

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Aber irgendwann begann es doch an mir zu nagen, dass ich einen Film, der eine so universelle Referenz war, nie gesehen hatte. Zuletzt weckte Camerons Avatar: The Way of Water das Bedürfnis in mir, diese Lücke endlich zu schließen (und sei es nur, um genauer festmachen zu können, wann Camerons Schaffen in meinen Augen seine Magie verloren hat). Ich war also endlich bereit, mir gut drei Stunden Zeit zu nehmen und Camerons Klassiker nachzuholen.

Nach dem Film

Ich bin überrascht, wie sehr ich mich doch auf Titanic einlassen konnte. Ich hatte erwartet, den Film als eine Art dreistündiges Déjà-vu zu verbringen. Klar, es gab diese Momente: Als Jack Dawson (Leonardo DiCaprio) sich zum „king of the world“ erklärt, oder die ersten paar Male, als das musikalische Thema anklingt, das auch die Grundlage zu „My Heart Will Go On“ ist, habe ich reflexhaft mit den Augen gerollt und mich dann selbst ermahnt, dass der Film nichts dafür kann, dass einige seiner wiedererkennbaren Elemente durch Jahrzehnte von Referenzen und Witzen abgedroschen wirken.

Aber es war eben doch nur die immergleiche Handvoll von ikonischen Momenten, die ich bereits kannte, und die beeindruckendsten Szenen des Films gehören nicht dazu. Da ist etwa die Szene gegen Ende, als das gigantische Schiff senkrecht im Wasser steht, Jack und Rose (Kate Winslet) sich an das Geländer klammern, hoch über dem Ozean, und bereit halten für den Moment, in dem das Schiff untergehen und sie mit in die Tiefe reißen wird. Cameron ist in seinem Element in dieser Szene, und wie auch immer genau die Kombination aus Modellen, CGI und Sets aussah, mit der er diesen Moment möglich gemacht hat, sie funktioniert auch gut 25 Jahre nach Erscheinen des Films ohne Abstriche. Cameron gibt uns ein Gefühl für die gewaltige Größe des Schiffs, die Passagiere, die sich an Geländer und ähnliches klammern, um nicht die, was, 200m Richtung Wasseroberfläche zu stürzen, wirken winzig dagegen, und man spürt ihre Verzweiflung, die Hoffnungslosigkeit ihres Überlebenskampfes. Oder die klaustrophobische Szene, in der Rose in das halb überflutete Innere des Schiffes hinabsteigt, um den dort gefesselten Jack zu befreien – da erkennt man die Handschrift des James Cameron, der Aliens inszeniert hat. In solchen furchteinflößenden Szenen nimmt Cameron der historischen Katastrophe wirklich ein Stück weit das Abstrakte.

Die größte Überraschung der Sichtung war aber, wie sehr mir Jack und Rose als Charaktere ans Herz wuchsen. Ich hatte die Avatar-Filme im Hinterkopf, und wie dort malt Cameron auch in Titanic mit dem groben Pinsel, seine Figuren sind Typen, die plakativ für unterschiedliche Gruppen unter den Passagieren oder innerhalb der Gesellschaft von 1912 stehen. Aber Jack, Rose, und selbst Nebenfiguren wie Billy Zane als Rose’ reicher, arroganter Verlobter, haben doch eine Spezifizität, die ich bei den Figuren in Avatar vermisse. Jack und Rose teilen einige wirklich charmante Szenen, wobei mir auch in dieser Hinsicht andere als die bekannten — „Jack, I‘m flying“— besonders im Gedächtnis geblieben sind: Das erste Treffen der beiden etwa, in dem Jack Rose davor rettet, über die Reling des Schiffs zu springen, ist irgendwie gleichzeitig hochdramatisch und ein bisschen albern, ein meet cute Marke James Cameron.

Und wo wir beim Thema sind: „We know before the movie begins that certain things must happen“, schreibt Roger Ebert in seiner Kritik zum Film zum Erscheinen 1997. Unter anderem müsse es natürlich eine „human story“ geben — „probably a romance“. Ich frage mich, ob es, würde man das historische Unglück heute verfilmen, ebenso naheliegend wäre, dass eine romantische Beziehung eine so zentrale Rolle spielt. Romantik und Erotik fehlen im heutigen Blockbuster-Kino oft — „Everyone Is Beautiful And No One Is Horny“ lautet der Titel eines Artikels, der vor ein paar Jahren viral ging. Es geht darin in erster Linie um das Marvel Cinematic Universe, aber die Diagnose lässt sich breiter anwenden: Sogar Cameron selbst scheint Romantik und Erotik weitestgehend aufgegeben zu haben. War die romantische Annäherung zwischen Jake Sully und Neytiri (inklusive einer Sex-Szene, die zu den einprägsamsten Momenten des Films gehört) noch ein zentrales Element im ersten Avatar, enthält The Way of Water bis auf ein paar flüchtige Blicke zwischen den jüngeren Figuren nichts in diese Richtung. Titanic hat für mich auch noch einmal unterstrichen, wie sehr mir dieses Element im aktuellen Blockbuster-Kino fehlt.

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Damit ist also diese Kreuzfahrtschiff-große Lücke in meiner persönlichen Filmgeschichte geschlossen. Ich denke, man kann mein Fazit bereits erahnen: Es hat sich gelohnt. Auch, wenn die Chance, am „Ereignis“ Titanic teilzuhaben, lange vorbei ist, bleibt doch ein großartiger Film, der mehr für mich zu entdecken bereithielt, als ich erwartet hatte.

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